Deutsch-Jüdische Normalität?

Andrei Kovacs ist Pianist, Dirigent, Kölner, ausgebildeter Wirtschaftswissenschaftler und in diesem Jahr verantwortlich für Planung, Leitung und Durchführung des Festjahres „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“. Im Zoom-Talk mit der Gesellschaft katholischer Publizisten (GKP), erläutert Kovacs, was die Ziele des Festjahres sind.

Kaiser Konstantin machte im 4. Jahrhundert nicht nur das geduldete oder gar verfolgte Christentum zur Staatsreligion, er erließ am 11. Dezember 321 im römischen Reich ein Edikt, welches an die Stadt Colonia adressiert war. Es belegt, dass jüdische Menschen in den Kölner Stadtrat der damaligen Kurie berufen worden. Die spätantike Original-Handschrift, die sich noch heute im Vatikan befindet (sie wird als „Privileg oder Fluch“ bezeichnet), ist so etwas wie der Beweis der ersten Juden im deutschsprachigen Raum nördlich der Alpen. Sie ist für die jüdischen Gemeinden Anlass, das Festjahr 321-2021 zu begehen und mit „jüdischer Perspektive“ auf 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland zu blicken.

Gesamtgesellschaftliches Ereignis
Neben den vielen niedrigschwelligen Angeboten und Möglichkeiten des lockeren und entkrampften Kennenlernens wird es am 21. Februar eine große Auftaktveranstaltung geben. Vom 20. bis 27. September soll zudem nicht nur in den großen Städten wie Berlin, Köln, Hamburg oder München, sondern auch in kleineren Orten das „Sukkot XXL“, das traditionelle Laubhüttenfest mit Dekorationszuschlag, stattfinden. Es soll zeigen, wie vielfältig, plural und bunt das jüdische Leben in Deutschland ist. Dafür stehe auch das Wort „Jewersity“, einem Kunstwort aus Jew und Diversity. Wichtig sei, dass alle mitmachen, betont Kovacs und freut sich über die Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, die Beteiligung aller sechzehn Bundesländer sowie die zugesagte Unterstützung der evangelischen und der katholischen Kirche und die der insgesamt 450 Kooperations- und Projektpartner. Es soll ein gesamtgesellschaftliches Ereignis werden, unterstreicht Kovacs.

Andrei Kovacs im ZOOM-Hintergrundgespräch
mit Journalisten der Gesellschaft katholischer Publizisten (GKP) am 8. Februar 2021.

Andrei Kovacs

„Jeder vierte hat Stereotype und antisemitisches Gedankengut im Kopf (…) oder unberechtigterweise Schuldgefühle, dabei trifft sie gar keine persönliche Schuld. Was ist unsere Rolle in der Vergangenheitsbewältigung der anderen?“

Gedenkroutine
„Jeder vierte hat Stereotype und antisemitisches Gedankengut im Kopf“, behauptet Kovacs, „(…) oder unberechtigterweise Schuldgefühle, dabei trifft sie gar keine persönliche Schuld“. So komme es vor, dass sich die Juden in Deutschland der 4. und 5. Generation nach der Shoa fragen: „Was ist unsere Rolle in der Vergangenheitsbewältigung der Anderen?“ Freimütig spricht Kovacs im Zoom-Talk davon, das sich so etwas wie eine „Gedenkroutine eingeschlichen“ habe. „Die Shoa nicht vergessen“, sagt er, „sie ist das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte“, es sei aber auch von „positiven Aspekten der Vergangenheit zu lernen, um Gegenwart zu gestalten und eine gemeinsame Zukunft zu bauen“.

Wunsch nach deutsch-jüdischer Normalität
150.000 Juden leben in Deutschland, etwa 0,2 Prozent der deutschen Gesamtgesellschaft. Circa 90 Prozent sind osteuropäisch-stämmig, aus den Ländern der ehemaligen UdSSR zugewandert, andere haben sich nach 1945 aus Israel wieder in Deutschland angesiedelt. Kovacs ist gebürtiger Rumäne, er engagiert sich in der jüdischen Gemeinde in Köln, seine Kinder besuchen eine jüdische Grundschule. Als Familienvater wünscht er sich, dass seine drei Kinder einmal sagen, dass es normal sei, deutsch und jüdisch zu sein. Eine jüdische Identität, die eine deutsch-jüdische Normalität feiere, die gäbe es noch nicht, sagt er realistisch.

JLID2021
„Wichtig ist uns, dass wir das jüdische Leben heute sichtbar machen, denn jeder hat das Recht dargestellt zu werden, wie er dargestellt werden will“, findet Kovacs. Im Gespräch vor Journalisten wird deutlich, dass die deutschen Juden oder die jüdischen Deutschen sich selbst so präsentieren möchten, wie sie sind – beim Laubhüttenfest, bei Groß-Veranstaltungen wie dem „Jewrovision Song Contest“, bei Puppentheater- und Filmvorführungen, zu Diskussionsforen oder akademischen Studientagen zur „deutsch-jüdischen Kultur“. Ein Blick auf die Website JLID2021.de zeigt, wie plural, vielstimmig, kreativ, humorvoll und bisweilen auch „normal“, sich jüdisches Leben in Deutschland orchestriert: mit Podcasts u.a. mit Michel Friedman und Josef Schuster, eine Porträtvideoreihe im TikTok-Format oder das Eigenprojekt „Mentsh“. Ob es den Medien im Festjahr JLID2021 gelingt, diese gewünschte Normalität jüdischen Lebens ohne klischeebeladene Symbolbilder realistisch abzubilden? Ob es den Politikern und Kirchenvertretern in ihren Sonntags- und Umarmungsreden gelingt neue Akzente zu setzen? Auf die Frage, wie die Corona-Pandemie das Festjahr beeinflusse, fügt Andrei Kovacs hinzu: „Krisen zwingen zur Kreativität, neue Wege zu gehen“.

Andrei Kovacs, JLID, Jüdisches Leben, Juden, Jewersity

www.2021jlid.de

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Veröffentlicht von Benedikt Winkler

Theologe & Journalist - Artworks, Film and Documentary. Benedikt Winkler forscht zu „Theologien im Kontext religiöser Pluralität: Differenzierungen - Herausforderungen - Perspektiven und Chancen“. „Ich schreibe für Digital Natives, Digital Immigrants und Silver Surfer, welche die Geister unterscheiden möchten.“

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